node created 2019/09/30
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Das Kind im Glashaus

In Frankfurt lebt ein Glasermeister,
Herr Lebrecht Scheibenmann, so heißt er;
Der hat ein kleines Töchterlein,
Das wollte nie gewaschen sein.
Und kam mit Schwamm und Seif sein Gretchen,
Da lief davon das böse MÀdchen;
Es warf sogar den Waschtisch um -
Das Wasser floß im Haus herum.

Da fing Herr Lebrecht Scheibenmann
Ein seltsam Haus zu bauen an,
Aus lauter Glas ein Haus, das, ach!
Durchsichtig war bis unters Dach.
Und in dies Glashaus setzte man
Das böse Töchterlein sodann.
Da blieben, um es anzusehn,
Die Leute auf der Straße stehn.
Von allen Seiten kamen sie,
Wenn’s jetzt beim Waschen wieder schrie;
Sie sah’n ins Glashaus all hinein
Und lachten: “Ei! wer wird so schrei’n!”
Am NĂ€htisch saß Frau Scheibenmann
Und warnte: “Jeder sieht dich an!”
Da schÀmte sich das Kind und lief
Im ganzen Haus herum und rief:
“Wo soll ich mich denn nur verstecken?
Man sieht mich ja in allen Ecken!
Das Dach, der Keller, jedes Zimmer
Ist ja von Glas! man sieht mich immer!”

Die Mutter sprach: “Mein liebes Kind!
Ein Mittel gibt’s, das hilft geschwind:
Wenn dich die Leute artig sehn
Dann werden sie vorĂŒbergehn;
Wirst du beim Waschen nicht mehr schrei’n,
Dann sehn sie auch nicht mehr herein:
Wirst du dich brav und gut benehmen,
Dann brauchst du dich nicht mehr zu schÀmen.
Ein artig Kind nur Freude macht;
Unart’ge werden ausgelacht!” -
Das merkte sich das Töchterlein;
Es nahm sich vor, geschickt zu sein.
Und weil’s beim Waschen nicht mehr schrie,
Da lachten auch die Leute nie;
Denn jeder, der ins Haus jetzt blickt,
Der sieht ein Kind, das ganz geschickt.

Und habt Ihr selbst ein Kind, Ihr Leut’,
Das bei dem Waschen immer schreit,
Sagts nur Herrn Lebrecht Scheibenmann,
Der schafft Euch gleich ein Glashaus an.
"Unter’m MĂ€rchenbaum: Allerlei MĂ€rchen, Geschichten und Fabeln in Reimen und Bildern" (1877)