node created 2019/09/29
Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.
Bedenke, dass du nicht gegen deine Freiheit handelst, wenn du deine Meinung änderst und dem, der sie berichtigt, nachgibst. Denn auch dann vollzieht sich deine Tätigkeit nach deinem Willen und Urteil und sogar auch nach deinem Sinn.
"Selbstbetrachtungen"
Niemand wird den ungeheuren Zuwachs an Wissen und Mach leugnen, den die Entwicklung der Naturwissenschaften dem Menschen eingetragen hat; kurz vor dem Anbruch der Neuzeit wußte die europäische Menschheit weniger als Archimedes im dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, und die ersten fünfzig Jahre unseres Jahrunderts enthalten eine größere Anzahl entscheidender Entdeckungen als alle Jahrhunderte der uns bekannten Geschichte zusammengenommen. Aber wer wüßte nicht, daß man die gleiche Entwicklung mit kaum weniger Recht auch für das nachweisliche Anwachsen der Verzweiflung, für die Entzauberung der Welt, für die Entstehung des Nihilismus, der ein spezifisch neuzeitliches Phänomen ist, verantwortlich machen kann, daß diese einst esoterischen Phänomene sich immer breiterer Bevölkerungsschichten bemächtigt haben, und daß heute - vielleicht das bezeichnendste Symptom für die Unvermeidlichkeit dieser Begleiterscheinungen - auch die Forschung selbst, deren begründeter Optimismus sich noch im neunzehnten Jahrhundert so auffallend von dem nicht weniger gerechtfertigten Pessimismus der Denker und Dichter abhob, von ihnen nicht mehr verschont ist. Das Naturbild der modernen Physik, dessen Anfänge man bis auf Galileo zurückverfolgen kann und das dadurch entstand, daß das Vermögen des menschlichen Sinnesapparats, Wirklichkeit zu vermitteln, in Frage gestellt wurde, zeigt uns schließlich ein Universum, von dem wir nicht mehr wissen, als daß es in bestimmter Weise unsere Meßinstrumente affiziert; und das, was wir von unseren Apparaten ablesen können, sagt über die wirklichen Eigenschaften, in dem Bilde Eddingtons, nicht mehr aus, als eine Telephonnummer von dem aussagt, der sich meldet, wenn wir sie wählen. Anstatt mit objektive Eigenschaften, mit anderen Worten, finden wir uns mit den von uns selbst erbauten Apparaten konfrontiert, und anstatt der Natur oder dem Universum begegnen "wir gewissermaßen immer nur uns selbst".
"Vita Activa"
Der Mensch soll ja nicht, weil alle Dinge zwiespältig sind, deshalb auch zwiespältig sein. Diese Meinung trifft man aber immer und überall. Weil wir hineingestellt sind in diese zwiespältige Welt, deshalb müssen wir ihr gehorchen. Und seltsamerweise findet man diese ganz und gar unchristliche Anschauung gerade bei den so genannten Christen.
22. Mai 1940
"Was hältst Du von Frauenrechtlerinnen?"

"Das meiste ist Giftmischerei pur. Sie versprühen das Gift pauschal über alle, praktizieren generell Feindschaft gegen Männer und nur selten gegen das in der Tat bestehende wirkliche Unrecht gegen sie. Kämpfen tumb gegen Wörter. Sagen nun statt 'man' - 'frau', was saudumm klingt. Und kommt dann ein Macho daher, lecken sie ihm das Salz von der Haut..."

Die Frau am Nebentisch guckte voller Haß herüber, stand auf, warf wie mit Gewalt die Zigarettenschachtel in die Tasche und ging mit angezogenem Kinn im Hackschritt weg. Aus vier Metern Entfernung zischte sie laut genug, daß wir es hören konnten: "Arschloch, dämliches!" und lief weiter.
"Gastmahl auf Gomera"
Die Muse der Tragödie ist zur Gassenhure geworden, denn jeder deutsche Schlingel notzüchtigt sie und zeugt mit ihr fünfbeinige Mondkälber, welche so abscheulich sind, daß ich den Hund bedauere, der sie anpißt.
"Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung" (1822)
Ein Hamsterrad sieht von innen aus wie eine Karriereleiter.
Es ist immer sehr schwierig, über den Wert politischer Ziele zu urteilen, wenn deren Erreichung noch in weiter Ferne liegt. Ich glaube daher, daß man eine politische Bewegung nie nach ihren Zielen beurteilen darf, die sie laut verkündet und vielleicht auch wirklich anstrebt, sondern nur nach den Mitteln, die sie zu ihrer Verwirklichung einsetzt.
Es gibt keine Absurdität, die so handgreiflich wäre, daß man sie nicht allen Menschen fest in den Kopf setzen könnte, wenn man nur schon vor ihrem sechsten Jahre, anfienge, sie ihnen einzuprägen, indem man unablässig und mit feierlichstem Ernst sie ihnen vorsagte.
Der Direktor der Versicherungsgesellschaft "Fortschritt" war immer mit seinen Beamten äußerst unzufrieden. Nun ist jeder Direktor mit seinen Beamten unzufrieden, der Unterschied zwischen Beamten und Direktoren ist zu groß, als daß er sich durch bloße Befehle von seiten des Direktors und durch bloßes Gehorchen von seiten der Beamten ausgleichen ließe. Erst der beiderseitige Haß bewirkt den Ausgleich und rundet das ganze Unternehmen ab.

Der blinde Knabe

O ihr Tage meiner Kindheit,
Nun dahin auf immerdar,
Da die Seele noch in Blindheit,
Noch voll Licht das Auge war:
Meine Blicke ließ ich schweifen
Jedem frei ins Angesicht;
Glauben galt mir für Begreifen
Und Gedanken kannt ich nicht.

Ich begann jedoch zu sinnen
Und zu grübeln hin und her,
Und in meiner Seele drinnen
Schwoll ein wildempörtes Meer.
Meine Blicke senkt ich nieder,
Schaute tief in mich hinein
Und erhob sie nimmer wieder
Zu dem goldnen Sonnenschein.

Mußt ich doch die Welt verachten,
Die mir Gottes Garten schien,
Denn die Guten läßt er schmachten,
Und die Bösen preisen ihn.
Freude, Lust und Ruh vergehen –
Oh, wie wohl war einst dem Kind!
Meine Seele hat gesehen,
Meine Augen wurden blind!
Man muss etwas machen, um selbst keine Schuld zu haben.
Besser zu durchdenken:
Raabe im Sterben, als ihm seine Frau über die Stirn strich: "Das ist schön."
Der Großvater, der sein Enkelkind mit zahnlosem Mund anlacht.
Es ist unleugbar ein gewisses Glück, ruhig hinschreiben zu dürfen: "Ersticken ist unausdenkbar fürchterlich." Freilich unausdenkbar, und so wäre also doch wieder nichts hingeschrieben.
Tagebuch 20.12.1921
Habe jedesmal acht auf das, um was es sich handelt, auf das, was du denkst, was du bist, auf den Sinn der Worte, die du aussprichst. Sonst geschieht es dir eben recht. Du willst lieber morgen erst gut werden, als es heute schon sein.
"Selbstbetrachtungen"
Wir kennen keinen vollkommenen totalitären Herrschaftsapparat, denn er würde die Beherrschung der gesamten Erde vorraussetzen. Wir wissen aber genug von den immer noch vorläufigen Experimenten totaler Organisation, um zu erkennen, daß die durchaus mögliche Vervollkommnung dieses Apparats menschliches Handeln in dem uns bekannten Sinne abschaffen würde. Handeln würde sich als überflüssig erweisen im Zusammenleben der Menschen, wenn alle Menschen zu einem Menschen, alle Individuen zu Exemplaren der Gattung, alles Tun zu Beschleunigungsgriffen in der gesetzmäßigen Bewegungsapparatur der Geschichte oder der Natur und alle Taten zu Vollstreckungen der Todesurteile geworden sind, die Geschichte und Natur ohnehin verhängt haben.
"Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", S. 683
Wenn man von oben hinunterschaut auf den kleinen blauen Planeten mit seiner dünnen Schutzhülle und dem unendlichen Schwarz drumherum, wird klar, dass wir unseren Heimatplaneten viel mehr als Geschenk erkennen sollten, denn wir haben nur einen.
Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: "Ich, der Staat, bin das Volk."
"Also sprach Zarathustra"
Die Eltern haben eben für die Kinder nur die tierische, sinnlose, sich mit dem Kinde immerfort verwechselnde Liebe, der Erzieher hat für das Kind Achtung, und das ist im Erziehungssinn unvergleichbar mehr, selbst wenn keine Liebe mitsprechen sollte. Ich wiederhole: im Erziehungssinn; denn wenn ich die Elternliebe eine tierisch sinnlose nenne, so ist das an sich keine Minderbewertung, sie ist ein ebenso unerforschliches Geheimnis wie die kunstvoll schöpferische Liebe des Erziehers, nur in Hinsicht der Erziehung allerdings kann diese Minderbewertung gar nicht groß genug sein. Wenn sich N. eine Henne nennt, so hat sie ganz recht, jede Mutter ist es im Grunde, und die, welche es nicht ist, ist entweder eine Göttin oder aber wahrscheinlich ein krankes Tier. Nun will aber diese Henne N. nicht Hühnchen, sondern Menschen zu Kindern haben, darf also ihre Kinder nicht allein erziehen.
Brief an Elli Hermann (Herbst 1921)
Der Irrtum wiederholt sich immerfort in der Tat, deswegen muß man das Wahre unermüdlich in Worten wiederholen.
Gerade wie ein Mensch, der gar nichts hat, der kann wohl mild sein, denn er gibt mit dem Willen; jedoch, wenn ein Mensch grossen Reichtum hat und nichts gibt, der kann nicht mild heissen. Und ebenso kann kein Mensch eine Tugend haben, der sich nicht dieser Tugend hingibt, wenn es Zeit und Raum erlaubt. Und darum sind alle die, die sich dem beschaulichen Leben hingeben und nicht äusseren Werken und sich ganz und gar von äusserem Werk abschliessen, im Irrtum und nicht auf dem rechten Weg. Da sage ich, der Mensch, der im beschaulichen Leben ist, kann wohl und soll sich von allen äussern Werken freimachen, solange er im Schauen ist; aber hernach soll er sich äussern Werken widmen, denn niemand kann sich allezeit und fortwährend dem beschaulichen Leben hingeben, und das wirkende Leben wird ein Aufenthalt des schauenden Lebens.