node created 2019/09/29
Ein Mittel, durch das sowohl die Spaltung des Selbst als auch GewalttĂ€tigkeit in unserem Leben entstehen und erhalten werden, ist die Abstraktion. Teilweise ist es die ÜberschĂ€tzung der Intelligenz, die zur Glorifikation des abstrakten Denkens - abgetrennt von Leidenschaft, Enthusiasmus und Aufrichtigkeit — gefĂŒhrt hat. SĂžren Kierkegaard bemerkte 1846, daß wenn die Intelligenz dergestalt ĂŒberschĂ€tzt wird, sie die Wirklichkeit in gleichsam stellvertretende Ideen hinein tramformiert (Kierkegaard, 1962). Diese Verwandlung fĂŒhrt dann dazu, daß Ideen, die von der Logik ihrer eigenen VerhĂ€ltnisse her als Ideen bestimmt werden, dadurch eine Art höhere »RealitĂ€t« beanspruchen, die sich von den wirklichen VorgĂ€ngen, denen sie entsprechen sollten, weit entfernen kann.

Auf diese Weise wird unser Leben durch eine Logik bestimmt, die wenig mit der Wirklichkeit der menschlichen Leidenschaft, des Enthusiasmus oder der Aufrichtigkeit zu tun hat. Deswegen schrieb Kierkegaard, daß solche abstrakten VorgĂ€nge »die wirkliche Situation in unwirkliche Tricks und RealitĂ€t in ein Spiel« verwandeln. Die Konsequenzen solcher VorgĂ€nge zerstören unseren Geist und unsere Möglichkeiten als Menschen, gerade weil Abstraktion sich dafĂŒr eignet, GefĂŒhle auszufiltern. Dadurch wird die Abstraktion selbst zum Mittel unserer DestruktivitĂ€t und insbesondere Unserer verleugneten DestruktivitĂ€t. Indem Ideen VorgĂ€nge vertreten können, ohne die wirklichen BedĂŒrfnisse und BeweggrĂŒnde in Betracht zu ziehen, verlieren wir den Zugang zu ihnen, und unsere Sicht wird eine reduzierte und eingeschrĂ€nkte, ohne daß wir uns dessen bewußt sein mĂŒssen. Aber eine reduzierte Wahrnehmung — sie mag zwar als wissenschaftlich gelten und dem Menschen kurzfristig Beherrschung und Erfolg bringen — muß unvermeidlich destruktiv auf das Leben wirken.

Einerseits ist es also die Abstraktion selbst, die zur DestruktivitĂ€t fĂŒhren kann; andererseits dient sie der Verleugnung jener DestruktivitĂ€t, die sich unvermeidlich in jedem aufbaut und insbesondere dort, wo man von sich selbst und seinen GefĂŒhlen getrennt ist. Esist ein bösartiger Kreislauf. Jemehr unser Denken von Abstraktionen erfĂŒllt ist, desto weniger Zugang haben wir zur RealitĂ€t unseres GefĂŒhlslebens und zu seinen destruktiven AuslĂ€ufern. Zum Beispiel können wir uns dem »Fortschritt« widmen, ohne merken zu mĂŒssen, daß wir da dadurch die Umwelt oder andere Menschen zerstören können. Die Logik der Abstraktion erlaubt uns, unser persönliches Involviertsein von den jeweiligen Resultaten abzutrennen. Es ist alles fĂŒr den »Fortschritt« oder fĂŒr die »Sicherung« des Friedens etc. Die Abstraktion dient der Depersonalisation, der Entfremdung von peinlichen und schmerzhaften GefĂŒhlen. Und indem die Gesellschaft solch einen Vorgang (wie den Fortschritt) als erstrebenswert erklĂ€rt und dadurch auch jeden, der diesbezĂŒglich Fragen hat, suspekt macht — zum VerrĂ€ter am Fortschritt — verbirgt die dahinter stehende Ideologie unser Gespalten-Sein. Dadurch wird aus der »RealitĂ€t« ein boshaftes Spiel: Was dem Menschen wirklich angetan wird, zĂ€hlt nicht.
"Der Verrat am Selbst"