node created 2019/09/29
Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein. Hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und Torheiten, die ihr eigen sind, mit Händen und Füßen zu verteidigen.
Wir urteilen über Vergangenes, nicht um Recht zu haben, sondern um -- aus den Verstrickungen der Zeit befreit -- die Dinge für die Zukunft zu bedenken.

An der Gleichschaltung 1933 könne man den Zusammenbruch des persönlichen Urteilsvermögens studieren, so Arendt. Sobald man heutzutage an einer bestimmten Person eine besondere Schuld festmache, anstatt die Schuld für alle Taten bei geschichtlichen Bedingungen und dialektischen Bewegungen zu suchen, wer man angegriffen; und wer immer auch nur beiläufig moralische Fragen aufwerfe, sei mit einem erschreckenden Mangel an Selbstvertrauen und Stolz konfrontiert. Stolz aber ist, in den Worten von Isak Dinesen, "Der Glaube an die Idee, die Gott hatte, als er uns schuf. Ein stolzer Mensch trachtet danach, im Lichte dieser Idee zu leben und sie zu verwirklichen."

Indem wir über eine Geschichte nachdenken, sie uns und anderen immer neu erzählen und auf diese Weise, nachdem sie zu einem Ende gekommen ist, anfangen, "kräftig ins Urteilen" zu kommen, hört die Geschichte auf, eine Folge nackter Ereignisse zu sein. Die Tatsachen, und seien sie noch so grausam, müssen bewahrt werden, nicht, damit wir nicht vergessen, sondern damit wir urteilen können. Schließlich ist es die Fähigkeit zu urteilen, die uns zum Handeln befähigt. Denn jede menschliche Tat ist ja eine Entscheidung. "Hinter der Abneigung zu urteilen", so heißt es in dem hier abgedruckten Vortrag, "lauert der Verdacht, dass eigentlich niemand mehr ein frei handelndes Wesen ist."