4 years ago in Zitate
Wir urteilen über Vergangenes, nicht um Recht zu haben, sondern um -- aus den Verstrickungen der Zeit befreit -- die Dinge für die Zukunft zu bedenken.

An der Gleichschaltung 1933 könne man den Zusammenbruch des persönlichen Urteilsvermögens studieren, so Arendt. Sobald man heutzutage an einer bestimmten Person eine besondere Schuld festmache, anstatt die Schuld für alle Taten bei geschichtlichen Bedingungen und dialektischen Bewegungen zu suchen, wer man angegriffen; und wer immer auch nur beiläufig moralische Fragen aufwerfe, sei mit einem erschreckenden Mangel an Selbstvertrauen und Stolz konfrontiert. Stolz aber ist, in den Worten von Isak Dinesen, "Der Glaube an die Idee, die Gott hatte, als er uns schuf. Ein stolzer Mensch trachtet danach, im Lichte dieser Idee zu leben und sie zu verwirklichen."

Indem wir über eine Geschichte nachdenken, sie uns und anderen immer neu erzählen und auf diese Weise, nachdem sie zu einem Ende gekommen ist, anfangen, "kräftig ins Urteilen" zu kommen, hört die Geschichte auf, eine Folge nackter Ereignisse zu sein. Die Tatsachen, und seien sie noch so grausam, müssen bewahrt werden, nicht, damit wir nicht vergessen, sondern damit wir urteilen können. Schließlich ist es die Fähigkeit zu urteilen, die uns zum Handeln befähigt. Denn jede menschliche Tat ist ja eine Entscheidung. "Hinter der Abneigung zu urteilen", so heißt es in dem hier abgedruckten Vortrag, "lauert der Verdacht, dass eigentlich niemand mehr ein frei handelndes Wesen ist."
 5 years ago in Zitate
Geschichte wird von Menschen gemacht, aber nicht von prominenten Individuen, von fetischähnlichen Figuren, denen abzugucken wäre, wie sie sich räuspern und wie sie spucken...
 9 years ago in Zitate
[..] wenn die Weltgeschichte nicht so beschissen wäre, wäre es eine Lust zu leben. Dies ist's aber auf jeden Fall. Der Meinung war ich sogar in Gurs, wo ich mir die Frage [ob man sich das Leben nehmen solle] ernsthaft vorlegte und spaßhaft beantwortete.
Brief an Kurt Blumenfeld (1952)
 1 decade ago in Zitate
Solange wir leben, haben wir unseren Platz in dieser Geschichte, spielen wir darin eine Rolle. Alle, die da auf dem Bürgersteig sind, die auf dem Fahrrad vorbeikommen, die uns anschauen oder uns nicht anschauen, spielen eine Rolle in dieser Geschichte. Sie alle tun etwas im Zusammenhang mit uns. Man kann den Kranken noch soviele Fußtritte in den Leib versetzen oder sie umbringen, Menschen, die Durchfall haben, zwingen, in einer Kirche eingeschlossen zu bleiben und sie dann erschießen, weil sie hineingeschissen haben, zum millionsten Mal brüllen Alles Scheiße, alles Scheiße, es gibt zwischen ihnen und uns eine Bindung, eine Beziehung, die nichts zerstören kann. Sie wissen, was sie tun, sie wissen, was man mit uns tut. Sie wissen es, als ob sie wir wären. Sie sind es. Und ihr seid wir! Wir sehen jeden dieser Menschen an, "der nichts weiß", wir möchten uns in jedes Bewußtsein einnisten, das nichts anderes bemerkt haben möchte als ein Stück gestreiften Stoff oder eine Reihe von Menschen oder ein bärtiges Gesicht oder den martialischen SS-Mann, der an der Spitze geht. Man wird uns nicht kennen. Jedesmal, wenn wir durch eine Stadt kommen, kommt Menschenschlaf durch Menschenschlaf. Genau das ist der Schein. Aber wir wissen alles, die einen sowohl wie die andern und die einen von den andern.

Als wir durch Wernigerode marschieren, richten wir die Augen auf die, die auf den Bürgersteigen sind. Wir betteln um nichts; sie sollen uns nur sehen, sollen uns nicht auslassen. Wir zeigen uns.
"Das Menschengeschlecht"
Seite 332